Ende des 1. Weltkrieges und Frauenwahlrecht
Für die jüngere Generation unter uns ist es kaum vorstellbar, dass die Frauen erstmals im Januar 1919 bei der Wahl zur 1. Nationalversammlung wählen durften. Bisher waren auch die Schaal-Frauen aus der Perspektive der Gesellschaft scheinbar weniger wert. Das drückt sich zum Beispiel auf dem Totenzettel von Anna Dingels aus. Sie war die Frau von Michael Schaal, dem Bruder unseres Schaalenhofgrün- ders, der nach Kopp gezogen war. Der Titel lautet: „Frau Michael Schaal, geborene Anna Dingels“.Die 7 Kinder aus meine Elterngeneration
Mein Vater hatte 6 Geschwister, die alle auf dem Schaalenhof nach dem 1. Weltkrieg geboren wurden. Genau gezählt ware es sogar 9 Geschwister. 2 Kinder sind allerdings wie es damals oft passierte, einige Zeit nach Ihrer Geburt verstorben.- Matthias Schaal, Onkel Matthes in Niederhersdorf
- Georg Schaal, mein Vater
- Katharina Schaal, Schwester Hadeloga
- Margret Schaal, meine Patentante in Albuquerque, New Mexiko, USA
- Susanna Schaal, Tante Susi in Aalen
- Helene Schaal, Tanten Lehnchen in Großkampenberg
- Margarete Schaal, Tante Gretchen, unverheiratet in Niederhersdorf.
Matthias Schaal und Hanne Schuster
Zweiter Bildungsweg und die Joint Venture Idee
Onkel Matthes machte eine zweite Ausbildung als Buchhalter und wandte sich anderen Innovationen zu. So kaufte er als erster Hersdorfer ein Auto, einen VW Käfer mit der markanten geteilten Heckscheibe. Seine Frau Hanne beschrieb die Farbe des Autos als ein „hässliches Geranien-grün“. Ansonsten war sie sehr begeistert von seiner Hersdorfer Attraktivität. Wie mein Cousin Manfred erzählt fuhr er mit diesem VW Käfer häufiger durch Deutschland. Seine besondere Destination galt der Lieblingsschwester Susanne. Dort verbrachte er Mitte der 50er Jahre drei Monate und kam zu dem Ergebnis, dass er sehr gerne zusammen mit seinem Schwager Josef einen Elektrobetrieb eröffnen würde. So wollte Matthes die kaufmännische und Josef die technische Seite abdecken. In diesem Zusammenhang hatte er bereits einen zum Verkauf anstehenden Betrieb in Gerolstein ausfindig gemacht. Josef war noch etwas zögerlich, seine schwäbische Heimat aufzugeben. Schwester Susanne war entsprechend motivierend tätig und auch Matthias konnte diesem Szenario sehr viel abgewinnen.Das persönliche Joint Venture mit Hanne
Diese Stimmung hielt offensichtlich an, bis Matthias zu Karneval 1956 zurück nach Hersdorf fuhr und dort eine attraktive Dorfschullehrerin mit dem Namen Hanne kennenlernte. Kurzfristig kam er mit dieser dann an Ostern auch einmal in Aalen vorbei. Nun hatte sich seine Interessenlage offensichtlich von dem gemeinsamen Joint Venture mehr in Richtung eines persönlichen Joint Ventures mit Hanne orientiert. Tante Hanne erzählt, das persönliche Joint Venture hatte ein paar Monate zuvor im Gieres Haus begonnen, als sie Matthes zum ersten Mal gesehen hatte. „Den Mann werde ich mal heiraten“, war ihr erster Gedanke wie sie freudestrahlend erzählt. So richtig in Schwung kam das Ganze dann beim Karnevalsball in Schönecken im Haus Frink. Es war ein vornehmer Ball in festlichen Kleidern zu dem Matthes von Freund Krawinkel eingeladen worden war. Man könnte sagen es war der Schönecker Opernball. Hanne war zufällig auch anwesend und hier hat es dann richtig gefunkt. Ein Freund, Lehrer Jakobs, hat dann am gleichen Abend, wohl mehr im Scherz, aber im Beisein des Schönecker Pastors, sogar die Verlobung der Beiden verkündet. Nach dem Ball waren die Beiden ein festes Paar.„Dat Mädchen is janz nett”
Noch im gleichen Jahr lud Onkel Matthes Tante Hanne „zur Besichtigung“ ins Schaalenhaus ein. Oma Katharina kommentierte: „Dat Mädchen is janz nett, aber hätte nicht gedacht, dass du dir so eine junge nimmst“. Doch sie begann Hanne als angehende Schwiegertochter zu schätzen lernen.„Rex, wie machen die alten Nazis?“
Onkel Matthes hat bei all seinem Leid durch seine schwere Krankheit seinen trockenen Humor nie verloren. Mein Vater hat oft von seinem Bruder erzählt. Besonders legendär ist die Geschichte mit dem Hund Rex nach dem Krieg: Matthes hatte Rex beigebracht sich auf das Kommando „Rex, wie machten die alten Nazis?“ auf die Hinterläufe zu setzen und die rechte Pfote mit besonderer Würde zu heben. Immer wenn ein Bekannter zu Besuch kam, dessen politische Nazi-Vergangenheit Matthes kannte, bat er Rex um das Begrüßungsritual. Die Gäste wären am liebsten im Boden versunken, und Matthes hatte seine diebische Freude.Der Fouché von Hersdorf
Als Kinder erlebten wir Onkel Matthes anfangs als nicht sehr zugänglich. Wir fassten jedoch mit der Zeit unser Vertrauen zu ihm darüber, dass uns seine enge Verbundenheit zum Schaalenhof und zu Onkel Schorsch nicht verborgen blieb. Häufig kam er nach der Arbeit auf dem Rückweg von Neuheilenbach vorbei, um Milch abzuholen und ein Schwätzen zu halten. Er saß dann lässig auf dem Sideboard in der Küche und tauschte mit meinem Vater politische Neuigkeiten aus. Erst später habe ich seine Rolle in der Hersdorfer Politik besser verstanden. Matthes agierte stets im Hintergrund, zog wie Fouché die Fäden der Politik und lobbyierte seit den 50ziger Jahren für meinen Vater, der politisch als Bürgermeister aktiv war. So verhalf er ihm zu so manchen Wahlerfolgen und politischen Unternehmungen.Bester Blick auf Hersdorf
1970 baute Matthes das neue Haus auf der „Ranch“, einem Hügel der damals als Knollen-Ranch bezeichnet wurde und den Bauern zur Lagerung von Rüben diente. Der Bauplatz war für Matthes ideal. Von seinem Wohnzimmer aus hatte er den perfekten Blick auf den geliebten Schaalenhof und den besten Überblick über das politische Dorfgeschehen in Hersdorf. Wenn es mal wieder Stress unter den Nachbarn im Dorf gab, sagte er später oft zu Hanne: „Jut, dat mir hej oven jebaut han on van all dem Ärjer nejst mattkrejen“. Die Kinder wurden groß, Onkel Matthes ging früh in Pension und genoss die freie Zeit für seine Hobbys, insbesondere das Kegeln und Skatspiel mit seinen Skatbrüdern. Im August 2007 verstarb Onkel Matthes im Alter von 89 Jahren. Er wäre im Jahr des Schaalenfestes 100 Jahre alt geworden.GEORG SCHAAL und GERTA REIFERS, meine Eltern
Kurz vor Silvester, am 30. Dezember 1919 kam mein Vater, “Schaale Schorsch” zur Welt. Wie alle Schaals meisterte er mit Bravour die Volksschule. Er bedauerte oft, dass er gerne wie sein Vetter Josef auf eine weiterführende Schule gegangen wäre, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse es erlaubt hätten. In seiner Jugend musste er hart auf dem Hof arbeiten, um den kranken Vater zu ersetzen. Er erzählte uns, wie dankbar er war, dass nach dem Tod des Vaters sein Onkel Adam aus Nimshuscheid, für mehrere Jahre tatkräftig auf dem Hof aushalf.
Vor meinem Vaterhaus stand eine Linde
Georg hatte eine große und vielseitige Leidenschaft für Pflanzen und Tiere. In frühen Jahren pflanzte er eine ganze Wiese voll mit feinsten Obstbäumen, Pflaumen, Äpfel, Birnen und Kirschen, von denen wir noch heute ernten, soweit sie nicht dem Expansionsdrang des Juniors weichen mussten. Ende der 30er Jahre entwickelte er zudem eine Liebe zu Bienen und legte einen Bienenstock an. Dazu pflanzte er die beiden berühmten Lindenbäume, die jahrelang das Panorama des Schaalenhofes prägten. Doch auch diese Leidenschaften erlitten ihre Enttäuschungen. Als er 1949 aus der Gefangenschaft nach Hause kam, waren die Bienenstöcke verschwunden. Sein Bruder Matthes war zu dem Entschluss gekommen, die Bienen abzuschaffen und kommentierte das in seiner trockenen Art: „Ein Vieh, das seinen Herrn nicht kennt, hat hier nichts verloren“.
Das schöne Volkslied „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“ fand ein jähes Ende, als mein Bruder Berni 1987 die Regie übernahm und die beiden Wahrzeichen des Hofes dem Raumbedarf der neuen, breiteren Maschinen zum Opfer fielen.
Wer regiert Hersdorf?
Es kam der 2. Weltkrieg. Mein Vater blieb als zweiter und noch einziger Sohn zunächst bei seinen Schwestern auf dem Hof. Doch im Februar 1943, als der Krieg schon bald seine Wende nahm, kam auch für ihn der Stellungsbefehl. Nach einer kurzen Grundausbildung in Verdun ging es nach Metz und dann ab September 1943 nach Osten Richtung Russland.
Nach einigen verletzungs- und erntebedingten Heimataufenthalten, zuletzt im Mai 1944, ging es zurück an die russische Front, wo er nach monatelangem Rückzug im März 1945 in russische Gefangenschaft geriet. Vier lange Jahre währte die Gefangenschaft. Voller Sehnsucht nach seiner Heimat, durfte er im September 1949 endlich nach Hause reisen.
Mein Vater hat uns viel aus der Zeit erzählt. Eine nette Anekdote, die in Erinnerung blieb, ist die von seiner Brieftasche, die er bei einer Mattheis-Prozession 1938 in Trier gekauft hatte. Diese Brieftasche mit Fotos von seinen Liebsten trug er die Kriegszeit hindurch und auch in der gesamten Zeit seiner Gefangenschaft als treuen Wegbegleiter bei sich. Viele Male hat er sie vor den gierigen Wächtern der Gefangenenlager gerettet, indem er sie schnell einem Kollegen in der Reihe neben sich in die Hand drückte. Später zeigte er uns immer voller Stolz diesen Talisman, in dem er auch später immer seine wichtigen Bilder und Dokumente aufbewahrte. Eines dieser Dokumente war ein Telegramm, das er 1947 aus der Gefangenschaft an seine Mutter schickte:
„Ihr Lieben, herzliche Grüße sendet Georg. Mir geht’s gut. Wie ist die Ernte? Sind die Gebrüder Hoffmann daheim. Wo ist Vetter Josef nebst Eltern. Wer regiert Hersdorf?“
Er sendete bestimmt 20 solcher Telegramme in regelmäßigen Abständen nach Hause. Oma bewahrte sie alle für ihn auf. Heute befinden sie sich in meinem Archiv. Seine Kriegsgeschichte habe ich in einem gesonderten Beitrag zusammengefasst.
Schorschs erste Wahl
Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft begann der Wiederaufbau des Hofes. Onkel Matthes war krank geworden und konnte das Erbe nicht antreten. Die ersten Jahre waren hart. Tante Käthchen war bereits vor dem Krieg aus Not ins Kloster entflohen. Kurz nach dem Krieg verließen Tante Susi und Tante Lehnchen den Hof und zogen in ihre neue Heimat. So war Schorsch mit seiner Mutter, Matthes, Tante Änn, Margret und Gretchen allein zu Hause. Als Ausgleich zu der harten und für ihn nicht ganz freiwillig gewählten Rolle auf dem Hof suchte er früh den Weg in die lokale Politik. Bereits 1956 wurde er zum ersten Mal Bürgermeister von Niederhers- dorf. Er war über 20 Jahre leidenschaftlich in dieser Rolle, in vielen kommunalen Gremien und in der CDU tätig.
Schorschs beste Wahl
Schorsch hatte in den 50er Jahren wohl mehrere Liebschaften, unter anderem Meyer‘s Käthchen in Hersdorf. Schorsch traf allerdings eine viel bessere Wahl und ging in das Heenen-Haus Gerta Reifers freien. Meine Mutter wohnte in einer Gastwirtschaft und hatte unter anderem in Stuttgart Konditorin gelernt. Am 10. April 1958 heiratete er seine Gerta, Schorschs beste Wahl. Ab jetzt, mit 38 Jahren, begannen für ihn die besten und schönsten Jahre seines Lebens, wie er uns immer wieder erzählt hat. Ab 1961 bevölkerten wieder kleine Kinder den Schaalenhof und mischten die alten Tanten ordentlich auf.
Meine Mutter war die Seele des Hofes. Jeder Gast wurde warmherzig willkommen geheißen und fühlte sich bei ihr sofort wie Zuhause. Ihre beruflichen Kompetenzen fürs Kochen, Backen und Bewirten wurden in der Verwandtschaft und weit über die Grenzen von Hersdorf hinaus geschätzt. Die beiden waren die perfekte Kombination für einen sehr gastfreundlichen Schaalenhof: Gerta verwöhnte die Gäste mit leiblichem Wohl und Vater Schorsch war für alle Gäste ein spannender Gesprächspartner zu sehr vielfältigen Themen wie Landwirtschaft, Politik, Ge- schichte oder Kirche.
Che in Hersdorf
Wie sein Lieblingsonkel Heinrich hatte Vater eine sehr klare und eindeutige politische Auffassung, die er, wenn es sein musste auch lautstark in öffentlichen Sitzungen oder gegenüber provozierenden politischen Gegnern vertrat. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie er in den 70er Jahren mit der damaligen Jugendgruppe leidenschaftlich stritt, weil sie das berühmte Che Guevara-Bild in schwarz-rot in Lebensgröße an die Wand des öffentlichen Gruppenraums gemalt hatten, im wahrsten Sinne des Wortes ein rotes Tuch für Schorsch. Schorsch stand zu seiner Meinung und wollte mit Kommunisten und von Russland unterstützten Freiheitskämpfern nichts mehr zu tun haben.
Debatten im Trainingslager
Als ich später auf dem Gymnasium mit meiner sehr konservativen und CDU nahen Haltung oft heftige Diskussionen mit meinen linksgerichteten Schulkameraden führte, bin ich bei meinem Vater in die politische Lehre gegangen. Und das ging so: Damals besuchte uns des öfteren der Pastor Pitchmann. Er lag mit Schorsch politisch 100 Prozent auf einer Linie. Die Beiden hatten sehr viel gemeinsamen Gesprächsstoff. Ich wohnte am Abend so manchem politischen Diskurs bei und habe die Diskussion mit Argumenten meiner politischen Gegner aus der Schule befeuert, in dem ich ihre Ansichten vertrat. Mein Vater fühlte sich durch meine Argumente oft provoziert und legte dann erst so richtig los. Ich sah es als Trainingslager an und war am nächsten Tag immer bestens für die politischen Debatten im Sozialkundeunterricht gerüstet.
Als Erstgeborener auf dem Hof und nach Schaalscher Tradition sollte ich natürlich auch der neue Bauer werden. Noch heute bin ich meinem Vater sehr dankbar, dass er mir früh die Freiheit gab, das Gymnasium zu besuchen und später zu studieren. All das, was ihm im Leben verwehrt blieb. Es hat damals zwar lange gedauert, bis ich ihm klar machen konnte, dass der kleine Bruder doch auch mal am Nachmittag Traktor fahren könnte, doch am Ende hat der liebe Gott alles zum Besten für die Hofnachfolge gefügt.
Trost in schweren Zeiten
1980 begann eine schwere Zeit für meine Eltern, meine Schwester Johanna wurde krank und bereitete uns viele schlaflose Nächte. Es war ein sehr harter Schicksalsschlag, als Johanna 1986 verstarb. Zwei liebe Schwiegertöchter konnten eine Tochter nicht ersetzen, aber meine Eltern verspürten einen gewissen Trost, dass ihre Jungs mit ihnen glücklich waren. Zudem brachten 5 Enkelkinder wieder viel Freude und Leben ins Schaalenhaus nach Hersdorf.
Staffelübergabe
1986 übernahm Berni mehr oder weniger die Regie auf dem Schaalenhof. Er hatte sich offiziell bereit erklärt, den Hof als Chef und Landwirtschaftsmeister weiterzuführen, jedoch unter der Bedingung, den Stall deutlich zu modernisieren. Schorsch übergab den Staffel an den Sohnemann. Berni führte 1987 mit dem Bau eines Boxenlaufstalls die größte Erweiterung des Schaalenhofes durch.
Ein Tablettchen und ein Glas Wein
Einen Tag vor dem Jahrtausendwechsel feierte Schorsch seinen 80. Geburtstag. Es war für alle nochmal ein besonderes Schaalenfest. Schorsch war ein bewundernswerter Redner als Bürgermeister oder Präsident des Musikvereins. Er hielt noch einmal eine großartige Rede, wie in seinen besten Zeiten und wiederholte seine Prophezeiung: „Wenn ich mal 80 werde, dann feiert die ganze Welt mit mir.“ Und so sollte es sein zum Jahrtausendwechsel. Als ich ihn später fragte, wie er denn noch einmal zu einer solchen Form auflaufen konnte, meinte er: „Ich habe einfach vorher ein Tablettchen genommen und ein Glas Wein getrunken. Dann lief das wie geschmiert“.
In den weiteren 11 zufriedenen Jahren feierten meine Eltern 2008 goldene Hochzeit und hatten viele schöne weitere Erlebnisse mit den 5 Enkelkindern.
Meine Mutter verstarb am 5. Oktober 2009, zwei Tage nach ihrem 86. Geburtstag. Mein Vater verstarb 2 Jahre später am 24. Februar 2011 als ältester Mann von Niederhersdorf im Alter von stolzen 91 Jahren.