Eine Hommage an eine wunderbare Frau

Im Alter von 95 Jahren ist unsere geliebte Tante Hanne am 21. November 2025 friedlich im Krankenhaus in Prüm verstorben. Wir nehmen Abschied von einem wunderbaren Menschen, der unser Leben über Jahrzehnte mit Wärme, Humor, Großherzigkeit und liebevoller Aufmerksamkeit begleitet hat.
Ich hatte das große Privileg, sie am Abend vor ihrem Tod noch einmal im Krankenhaus besuchen zu dürfen. Sie wirkte lebendig, machte wie immer ihre Scherze und war vor allem eines: besorgt um andere. Sie bedauerte, dass das geplante Familienfest nun wegen ihres Krankenhausaufenthalts verschoben werden müsse – das tat ihr wirklich leid. „Ich bin doch noch nicht hier zum Sterben“, meinte sie mit einem Augenzwinkern. Und dann sorgte sie sich um die vielen WhatsApp-Nachrichten, die noch unbeantwortet waren. Einfach nicht zu antworten, das kam für sie nicht in Frage: „Wenigstens eine kurze Antwort“, sagte sie. So war sie.
Wir haben sie immer als einen besonders warmherzigen Menschen erlebt, der auf Familie, Freunde und Nachbarn eine große Anziehungskraft ausübte. Ihre Tür und ihr Herz standen immer offen. Auf einen spontanen Besuch war sie fast schon legendär gut vorbereitet – Kaffee war schnell gekocht, und irgendein Kuchen fand sich immer. Sie war uns ein großes Vorbild – vor allem darin, wie man neugierig, interessiert und lernbereit bis ins hohe Alter bleiben kann. Geistig war sie bis zuletzt hellwach. Bis zu ihrem 90. Lebensjahr nahm sie am Yoga-Kurs in Hersdorf teil und erzählte mit einem Lächeln, wie gut ihr das tue. Vor etwa 10 Jahren bekam sie von Ihren Kindern ein erstes Handy geschenkt und stürzte sich mit Begeisterung in die neue bunte Welt des ständigen Gepiepes und Gebimmels. So pflegte sie ein großes Netzwerk aus Kontakten und Freundschaften und hielt mit vielen Menschen einen lebendigen und zum Teil sehr geistreichen Austausch. Noch am letzten Abend sagte sie mir mit einem kleinen Schmunzeln: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich ohne Handy leben könnte.“
Herausragend war ihre Großherzigkeit. Jedes Jahr begann sie bereits im Oktober mit ihrer Weihnachtsbäckerei. Mit unglaublichem Fleiß und viel Liebe zum Detail backte sie mit Unterstützung von Ihrer Freundin Käthi Tausende von Plätzchen in großer Vielfalt. Diese verteilte sie – sorgfältig verpackt in schönen Weihnachtsdosen – an Nachbarn, Freunde und Familie. Für unsere Kinder gehörte dieses Ritual einfach zu Weihnachten dazu. Die Dose von Tante Hanne war ein Stück Zuhause und Geborgenheit. Tja, jetzt müssen wir die Plätzchen selber backen, das leicht „bekleckerte“ Rezeptbuch ist noch da.
Tante Hanne dachte an jeden Geburtstag. Besonders unsere Kinder und ihre Enkelkinder wurden regelmäßig mit kleinen, liebevoll ausgewählten Geschenken bedacht. In diesen Gesten zeigte sich ihre Aufmerksamkeit für jeden einzelnen Menschen und ihre Freude daran, anderen eine Freude zu bereiten.
Ein besonderes Hobby von ihr war die Handarbeit, insbesondere das Nähen von Patchworkdecken. Jeder, der diesen Nachruf heute liest, hat vermutlich im Laufe seines Lebens eine Decke von Tante Hanne geschenkt bekommen – sei es zur Hochzeit, zur Geburt eines Kindes oder zu einem runden Geburtstag. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sogar eine besondere Technik, persönliche Fotos in die Patchworkdecken einzuarbeiten. So entstanden einzigartige Erinnerungsstücke, in denen sich Lebensgeschichten, Familienbande und ihre große Zuneigung auf ganz besondere Weise wiederfinden.
Ein weiteres Beispiel für ihre Vitalität und ihre Fürsorge für andere erlebten wir an ihrem 85. Geburtstag. Als wir zu später Stunde – es war bereits gegen drei Uhr nachts – erfuhren, dass an dem Ort der Feier wohl kein Taxi mehr zu bekommen war, bot sie uns ganz selbstverständlich an, uns noch nach Hause zu fahren. Sie habe ja nichts getrunken, meinte sie. Nur schweren Herzens akzeptierte sie unsere höfliche Ablehnung. Dieser Moment beschreibt sehr gut, wie sie war: aufmerksam, tatkräftig, hilfsbereit – und immer bereit, für andere noch ein Stück weiterzugehen.
Tante Hanne war Mitte der fünfziger Jahre als junge Dorfschullehrerin nach Niederhersdorf „beordert“ worden – wie sie selbst immer schmunzelnd sagte. Wie sie mir einmal in einem Interview für die Schaalen-Chronik erzählte, hat sie dort 1956 im Haus Gieres ihren Matthes kennen und lieben gelernt. „Den Mann werde ich mal heiraten“, war ihr allererster Gedanke – und wenn sie das erzählte, leuchteten ihre Augen noch Jahrzehnte später.
So richtig in Schwung kam die Geschichte dann wohl beim Karnevalsball in Schönecken im Haus Frink, einem vornehmen Ball in festlichen Kleidern, zu dem Matthes von seinem Freund Krawinkel eingeladen worden war. Man könnte sagen: Das war der Schönecker Opernball. Hanne war „rein zufällig“ auch dort – und hier hat es dann endgültig gefunkt. Ihr Freund und Kollege, Lehrer Jakobs, verkündete noch am selben Abend, wohl mehr im Scherz, aber im Beisein des Schönecker Pastors, die Verlobung der beiden. Aus Spaß wurde schnell Ernst: Nach dem Ball waren sie ein festes Paar.
Noch im gleichen Jahr lud Onkel Matthes seine Hanne „zur Besichtigung“ ins Schaalenhaus ein. Oma Katharina kommentierte trocken: „Dat Mädchen is janz nett, aber hätt’ nich jedacht, dat du dir so eine junge nimms.“ Doch aus der vorsichtigen Skepsis wurde bald große Zuneigung, und Oma begann Hanne als angehende Schwiegertochter sehr zu schätzen. 1958 haben die beiden geheiratet. Ihren Matthes hat sie bis zu seinem Lebensende 2007 sehr geliebt und geschätzt – besonders seinen trockenen, weisen Humor, der wunderbar zu ihrem eigenen augenzwinkernden Wesen passte.
Tante Hanne kennen wir seit unserer Kindheit – und manchmal hatten wir das Gefühl, sie kenne uns besser als wir uns selbst. Sie war Dorfschullehrerin und hat uns als Kinder tief geprägt. Sie unterrichtete in einem Raum vier Jahrgänge gleichzeitig – ein heute kaum vorstellbares pädagogisches Kunststück und damals für uns Kinder völlig normal. Sie hatte Hersdorfer Platt gelernt und nahm es mit einem liebevollen Lächeln hin, wenn wir statt „Pfahl“ hartnäckig von „Steipen“ sprachen. Hochdeutsch konnte man ja schließlich auch später noch lernen.
Später in der Grundschule Schönecken war sie der Star für Eltern und Kinder. Die Tatsache, dass ein Kind in die Klasse von Tante Hanne eingeschult wurde, empfanden viele Eltern als kleinen Hauptgewinn. Ihre besondere Ausstrahlung spornte uns als Kinder an – und manchmal auch ein bisschen zu Höchstleistungen. Wenn wir an fetten Donnerstag durchs Dorf zogen und an jedem Haus ein kleines Volkslied sangen, um Süßigkeiten zu ergattern, war der „Auftritt bei Tante Hanne“ der heimliche Höhepunkt der Tour. Statt eines einfachen „Alle Vögel sind schon da“ gab es dann „Am Brunnen vor dem Tore“ – natürlich zweistimmig. Man wollte die Dorfschullehrerin ja nicht enttäuschen.
Tante Hanne wurde sehr herzlich in die große Schaalen-Familie aufgenommen, wie viele Bilder aus der Schaalen-Chronik in fröhlicher Runde unserer Elterngeneration zeigen. Große und kleine Feste wurden gefeiert – und mittendrin fast immer Hanne und Matthes. Das letzte ganz große Fest war das Schaalenfest 2018. Aus historischer Sicht wäre das 175-jährige Jubiläum des Schaalenhofs im Jahr 2022 ein würdiger Anlass gewesen. Doch so lange wollte Tante Hanne nicht mehr warten. Also fanden wir kurzerhand einen anderen Grund: 2018 feierten wir den 100. Geburtstag von Onkel Matthes – und mit ihm noch einmal die ganze Familie.
Bei meinem letzten Besuch sprach Tante Hanne sehr viel über Dankbarkeit: Dankbarkeit für das beste Krankenhaus, das sie sich vorstellen konnte, Dankbarkeit für ihr wunderbares Leben, die gemeinsame Zeit mit Matthes, die drei tollen Kinder und vor allem ihre innige Beziehung zur ihren sieben sehr glücklichen Enkeln und ihrem ersten Urenkel. „Alle haben das Abitur geschafft“, sagte sie nicht ohne Stolz. Sie erzählte noch einmal, wie sie die Enkel im Studium unterstützt hatte und für jede einzelne Klausur nach Oberhersdorf zum Beten gepilgert sei. „Für jede Klausur“, betonte sie, und fügte in ihrer besonderen Art mit erhobenem Zeigefinger hinzu: „Das hat den Kindern immer die Angst genommen und den Erfolg gesichert.“
Sehr berührt habe ich mich an diesem Abend von ihr verabschiedet – leise ahnend, aber auch dankbar für diese wunderbare Begegnung –, im Gefühl, dass es vielleicht ein Tschüss für immer sein könnte.

2022 – mein 60. Geburtstag
Wir sind von Herzen dankbar für die gemeinsame Zeit, für ihre Liebe, ihre Fürsorge und ihre vielen stillen, selbstverständlichen Gesten der Zuwendung. Tante Hanne lebt weiter in unseren Geschichten, in den Decken, die uns wärmen, in den Plätzchendosen, die wir jedes Jahr wieder aus dem Schrank holen, und in all den schönen Erinnerungen, die uns mit ihr verbinden. In Liebe und großer Dankbarkeit nehmen wir Abschied.
Für immer in unseren Herzen
Hans-Gerd und Rita
Berni und Gabi
und Kinder
